zur Erinnerung
30 Jahre Deutsche Einheit, Zeit für eine Zwischenbilanz

Nachgefragt

So sehe ich das!

Jochen Cramer, 73, aus Oranienburg (Brandenburg)

Welche Begriffe verbinden Sie mit der DDR?
Kindheit, Jugend, Gängelung, Westfernsehen, Abitur, Stasi, Wismut, Sport, Simson, Trabbi

Was hat Ihr Leben bis 1989 geprägt?
Ich hatte schon auf der EOS Reichenbach/VogtL Interesse für gesellschaftliche und philosophische Fragen. Geprägt hat mich mein Lehrer, der 1992 zusammen mit Bürgerrechtler Jürgen Fuchs das Buch" Dummgeschult?" veröffentlicht hat. Während dieser Zeit bekam ich erste Probleme mit dem System. Mit 24 Jahren habe ich geheiratet, bekam drei Kinder. Es gab immer mal Auseinandersetzungen mit Behörden und Staatsorganen.

Wie verbrachten Sie Ihre Freizeit?
In meiner Freizeit kümmerte ich mich um meine Familie, hab uns ein Wochenendgrundstück aufgebaut. Außerdem war ich aktiv im Radsport und Segeln, auch als Rettungsschwimmer. Meine Reiselust habe ich als Student beim Trampen befriedigt. Mit dem ersten Trabbi ging es in die sozialistischen Nachbarländer.

Welchen Beruf haben Sie gelernt?
Ich habe Maschinenbau studiert mit Abschluss Diplom-Ingenieur. Ich habe dann zehn Jahre als Programmierer und zehn Jahre als Prüfingenieur und Gutachter gearbeitet.

Wo waren Sie, als Sie vom Mauerfall erfuhren?
Beim Tapezieren unserer Neubauwohnung. Nachbarn haben es uns erzählt, weil wir den Fernseher noch nicht aufgestellt hatten.

Was haben Sie vom Begrüßungsgeld gekauft?
Wir haben gespart, um uns eine Videokamera kaufen zu können.

Welche Meinung hatten Sie zur Wiedervereinigung? Und welche haben Sie heute dazu?
Wegen der uns vorenthaltenen Meinungs- und Reisefreiheit habe ich sie sehr begrüßt. Nicht verstehen konnte ich die Konsumeuphorie meiner Landsleute und die damit einhergehende teilweise Abschaffung ihrer Arbeitsplätze. Ich finde die Wiedervereinigung richtig, aber ja, es wurde viel Erhaltenswertes nicht bewahrt, es war auch ein Ausverkauf zugunsten westdeutscher Unternehmen. Aber natürlich finden wir den Osten heute besser vor. Ich bin zufrieden.

Was ist in den zurückliegenden 30 Jahren aus Ihrer Sicht gut, was schlecht gelaufen?
Ich kann seitdem reisen und lesen, was ich will. Viele Bücher, die mich interessierten, standen vorher auf dem Index. Die Entwicklung der Städte, der Infrastruktur ist positiv. Schlecht war weitgehend die Arbeit der Treuhand. In meiner Stadt wurde eines der modernsten Kaltwalzwerke Europas von Krupp plattgemacht, um es als Konkurrenz auszuschalten. Auch schlecht war, dass viele Stasi-Leute nicht zur Rechenschaft gezogen worden sind. Manchem westdeutschen Personalchef waren diese Leute lieber, wie ich mal bei einem Bewerbungsgespräch erfuhr.

Wie ging es nach 1990 beruflich für Sie weiter?
Das Institut, an dem ich arbeitete, wurde abgewickelt, da es gleichartige in Westdeutschland gab. Dann habe ich als Segellehrer und Skipper gearbeitet, musste das der Familie wegen aber aufgeben. Ab Mitte 1991 half ich beim Aufbau eines Wohlfahrtsverbandes. Nach fünf Jahren hatten wir mehrere Einrichtungen und ich als Geschäftsführer einen Nervenzusammenbruch. Ich bekam die Kündigung, habe mich neu orientiert. Ich wurde Versicherungsfachmann, arbeitete auch als Skipper für Segeljachten.

Welchem Ostprodukt sind sie treu geblieben?
Wernesgrüner Bier, Bautz'ner Senf, Leckermäulchen, Ost-Mayonnaise, Werder Ketchup, Ost- Camembert. Als Schrauber bin ich Fan von Trabbis, Wartburgs und Simson-Zweirädern.


© infos-sachsen / letzte Änderung: - 22.01.2023 - 11:08